Heute ist es möglich, sich online auf unterschiedlichste Weise am Diskurs zu beteiligen und durch eigene Beiträge letztlich die gesellschaftliche und politische Meinungsbildung zu beeinflussen. – Dahinter steckt vor allem eine (bislang) wissenschaftliche Theorie, welche nun in der Praxis angekommen ist.
Konzipiert als reines Informationsmedium, hat sich das Internet in den letzten Jahren massiv gewandelt. Soziale Netzwerke und andere neue Möglichkeiten, Inhalte zu erstellen, zu teilen und zu verändern, haben das Netz grundlegend verändert. Heute sind knapp 77 Prozent der Deutschen im Netz (siehe (N)onliner-Atlas 2014). Neben zahlreichen privaten und beruflichen Anwendungen bietet das Netz heute stärker als je zuvor die Möglichkeit zur direkten Kommunikation und damit auch zur Teilhabe an politischen Willens- und Meinungsbildungsprozessen. Es eröffnet Chancen, wie sie bereits vor Jahrzehnten in der Wissenschaft beschrieben wurden.
Ein Theoriemodell stellt sich dem Praxistest
In „Faktizität und Geltung“ zeigte Jürgen Habermas 1992 auf, dass eine vollständige Demokratie nur dann erreicht werden kann, wenn einige grundlegende Bedingungen erfüllt werden. Hierzu unterschied Habermas in seiner „Diskurstheorie des Rechts“ vor allem das offene, kommunikative Handeln vom strategischem Handeln der Akteure im Entscheidungsfindungsprozess. Ihre Verständigung, mit dem Ziel eines gemeinsamen Konsenses, also der Zustimmung der anderen in einem herrschaftsfreien Diskurs, solle hierbei größte Beachtung finden. Gerade weil der Diskurs in den weitergehenden Ebenen – hierbei vor allem den gesetzgebenden Gremien – aufgrund der politischen Strukturen nicht mehr gänzlich herrschaftsfrei geführt werden kann, sei zuvor eine größtmögliche Öffnung des Diskurses auf den Ebenen der Willens- und Meinungsbildung anzustreben.
Doch gerade in diesem Gefüge machte der Soziologe eine gravierende Schieflage aus: Der politische Willens- und Meinungsbildungsprozess sei geprägt von strategischem Handeln. In diesem Zusammenhang sprach er von einer „sozialen Macht“, welche jedoch keineswegs allgemeine bürgerliche Interessen, keinen Durchschnitt und vor allem keine individuellen Bedürfnisse von Bürgern berücksichtigte. Eine solche Macht entsteht beispielsweise dann, wenn ein Akteur als Vertreter einer größeren Öffentlichkeit agiert und in diesem Auftrag strategisch kommuniziert und handelt. Wie von Habermas beschrieben: Keine erstrebenswerte Option. Diese soziale Macht, so der Soziologe weiter, setze sich in den politischen Machtstrukturen fort. Also in Strukturen, die von einem herrschaftsfreien Diskurs mit einer bürgerlichen Öffentlichkeit praktisch vollends abgeschnitten seien. In der Folge entscheide nur noch eine „administrative Macht“ über die Umsetzung des Diskursergebnisses bzw. die Gesetzgebung. Eine individuelle und direkte Teilhabemöglichkeit für Bürger, so wird es in Habermas´ Texten deutlich, gestaltete sich daher damals schwierig. Um diese Situation aufzubrechen, so der Soziologe weiter, müssten künftig einige grundlegende Bedingungen erfüllt werden.
Heute, über 20 Jahre später, kann dies im Netz gelingen. Wir leben in einer repräsentativen Demokratie. Das bedeutet, dass politische Entscheidungen nicht durch das Volk selbst, sondern durch gewählte Vertreter, unsere Abgeordneten, getroffen werden. In einer Demokratie mit deliberativem Ansatz hingegen, steht die Einbindung und der Diskurs mit den Bürgern vor, während und nach einer Entscheidungsfindung im Mittelpunkt. Genau dieser Ansatz ist es, den Habermas als besonders erfolgversprechend ausführt. Der Diskurs in einer deliberativen Demokratie soll öffentlich geführt werden. Dies soll zudem unter der Prämisse geschehen, dass kein Bürger, welcher auch nur ansatzweise oder potenziell von den verhandelten Themen und den Entscheidungen betroffen wäre, vom Diskurs ausgeschlossen werden darf. Zum anderen soll er frei von externen Zwängen geführt werden, welche die Gleichstellung der Teilnehmenden beeinflussen könnte. Jeder soll die gleichen Chancen erhalten, Themen einzubringen, Beiträge zu lesen, Vorschläge zu machen und Kritik zu üben. Letzteres ist heute im Netz gegeben und mit einer Onliner-Quote von beinahe 77 Prozent sind heute mehr Menschen als jemals zuvor in der Lage, online zu partizipieren.
Bleiben wir beim Ansatz von Habermas und vergleichen das Internet und seine zahllosen Nutzer mit der Agora der griechischen Polis als Marktplatz und Versammlungsort seiner Bürger, so entsteht das Bild einer potentiell beteiligten Öffentlichkeit. Der Definition nach ist eine moderne Öffentlichkeit ein relativ frei zugängliches Kommunikationsfeld, in dem Sprecher mit bestimmten Thematisierungs- und Überzeugungstechniken versuchen, über die Vermittlung durch Kommunikateure bei einem Publikum Aufmerksamkeit und Zustimmung für bestimmte Themen und Meinungen zu finden. Das Internet, so scheint es, kann diese Voraussetzungen in hohem Maße erfüllen. Anders als die griechische Agora bietet das Netz durch seine dezentrale Struktur zudem die Möglichkeit einer ortsungebundenen Öffentlichkeit und damit einen globalen Raum zur Kommunikation, für den Austausch von Informationen und den Diskurs. Die von Habermas genannten Bedingungen – Gleichheit, Offenheit und Diskursivität – sind heute also allesamt gegeben.
Wie sieht Netzöffentlichkeit aus?
Die Antwort auf diese Frage ist denkbar einfach: Die größte Öffentlichkeit im Netz erreicht, was einfach gefunden wird. Zentralität und Sichtbarkeit müssen also in besonderem Maße Beachtung finden. Die Viralität ist hierbei in den letzten Jahren zu einem bedeutsamen Faktor geworden. Es ist also wichtig, dass die onlinebasierte Partizipationsmöglichkeit nicht nur gegeben, sondern auch Thema ist. Das Netz bietet durch seine Verlinkungsstruktur und -kultur die besten Voraussetzungen um „Öffentlichkeitsspiralen“ zu schaffen: Ein Angebot wird thematisiert, kommuniziert, verlinkt (also distributiert) und führt eine interessierte Öffentlichkeit zurück zur „Quelle“. Dies geschieht heute sehr umfangreich und in hoher Geschwindigkeit. Vor allem in sozialen Netzwerken werden einzelne User so zu reichweitenstarken Multiplikatoren.
Eines der ersten Beispiele hierfür liegt bald fünf Jahre zurück und ist bezeichnend für eine aufmerksame Netzöffentlichkeit und einen Trend der heute oftmals mit dem Zusatz #Gate versehen wird: Die Geschichte des Rücktritts von Bundespräsident Horst Köhler im Jahr 2010. Dieser äußerte sich in einem Radiointerview zu den wirtschaftlichen Interessen der Bundesrepublik sowie deren Verteidigung in Afghanistan. Dies war ein Novum, galt doch bis zu diesem Zeitpunkt die Devise, dass dort gemeinsam mit den internationalen Partnern der internationale Terrorismus bekämpft werde. Der Reporter überging diese Aussage. Im Netz jedoch wurde die kritische Passage kurze Zeit später bereits heftig diskutiert. Einige Tage später nahmen sich erst Blogger, dann Online-Medien und später auch die klassischen Medien der Aussage des Bundespräsidenten an. Durch die verschiedenen Ebenen wurden immer mehr Menschen informiert – die kritische Öffentlichkeit wuchs. Schließlich wurde der (mittlerweile öffentliche) Druck auf Köhler immer größer, bis er schließlich von seinem Amt zurücktrat.
Das Beispiel macht deutlich, dass die Medienöffentlichkeit, welche durch klassische Medien mit Informationen versorgt und nicht direkt von Bürgerinnen und Bürgern initiiert wird, in diesem Fall zunächst nicht bzw. nicht ausreichend über einen bestimmten Sachverhalt informiert wurde. Erst durch das Wachsen von Gegen- und Teilöffentlichkeiten im Netz und unabhängig von medialer Einflussnahme, schaffte es die Causa Köhler in die klassischen Medien und erreichte auf diesem Wege eine weitere, entsprechend größere Öffentlichkeit. Ein Prozess, der beispielhaft das Potenzial der vernetzten Kommunikation aufzeigt.
Diese Netzöffentlichkeit ist es, die den deliberativen, den partizipativen Gedanken beflügelt. Sicher ist aber wohl auch, dass es sich hierbei nicht um jene 77 Prozent der deutschen Internet-Nutzer handelt, sondern insbesondere den Alpha-Multiplikatoren, also den reichweitenstarken Onlinern (wie z.B. einigen Bloggern), eine entscheidende Rolle zukommt. Sie sind es, die hier eine Aufgabe der klassischen Medien übernehmen: Die Gatekeeper-Funktion. Sie entscheiden, welche Themen und „Gates“ sie in ihren Blogs und Netzwerken weiter behandeln und damit ihren angegliederten Teilöffentlichkeiten zugänglich machen. Die spannende Frage ist, wie bewusst sie das tun und inwieweit sie dadurch ihre Rezipienten beeinflussen.
Diesem Aspekt wurde bislang bei Gedankenspielen rund um Netzöffentlichkeit und Online-Partizipation zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Doch möglicherweise liegt gerade darin ein Knackpunkt bei der digitalen Teilhabe. Dies könnte der Grund dafür sein, dass sich bisher lediglich kleine „Partizipationsinseln“ gebildet haben und all die großen Ideen (wie Liquid Feedback) letztlich nicht wirklich durchsetzen konnten.
Es scheint wie bei einem dieser Tangram-Puzzle: Die Puzzle-Teile liegen vor uns und wir wissen (in der Theorie) was zu tun ist. Doch noch wollen die Fragmente einfach nicht zusammenpassen. Sich mit den Gewohnheiten der Menschen im digitalen Raum zu befassen, wäre sicherlich ein guter Anfang.
Bildnachweis:
Artikelbild: Wolfram Huke, CC-BY-SA-3.0.
Deutscher Bundestag: Stefano Bolognini
Jürgen Habermas: Wolfram Huke, CC-BY-SA-3.0.
Horst Köhler: Frank Kleinschmidt