Bürgerbeteiligung im ländlichen Raum ist mehr als nur der wöchentliche Stammtisch. Mit den richtigen Mitteln kann man neue Zielgruppen beteiligen – ein Gastbeitrag von Sascha Blättermann von der Online-Bürgerbeteiligungsplattform Polit@ktiv.
Der ländliche Raum in Deutschland bekommt in den letzten Jahren eine schlechte Nachricht nach der anderen: Entweder vereinsamt er, weil es junge Menschen in die großen pulsierenden Städte zieht, oder er stirbt nach und nach aus, weil die Menschen immer älter werden und die Dörfer keine jungen Familien mehr anziehen.
Die Landflucht und der demographische Wandel verändern die Dörfer nachhaltig und stellen die Gemeinden vor große Herausforderungen: Wie schaffen wir eine angemessene Busverbindung zum nächsten Einkaufszentrum oder in die Stadt? Wie stellen wir die ärztliche Versorgung sicher? Wie können wir den Verkehr sicherer gestalten und für ältere Menschen anpassen?
Viele Kommunen stellen sich aktuell diesen Fragen und viele Bürgermeister suchen nach Ideen, wie man dieser Entwicklung entgegenwirken kann. Zukunftswerkstätten werden gegründet, Bürger werden nach Visionen gefragt, Gemeinderäte suchen nach Spielräumen im ohnehin engen Haushalt. Die meisten Kommunen beschränken sich dabei auf die Ideensuche vor Ort. In Bürgerversammlungen und am Stammtisch werden Visionen erarbeitet. Man kennt sich untereinander und grüßt sich jeden Tag. Das Internet spielt dabei oftmals keine Rolle.
Dafür gibt es durchaus verständliche Gründe: Gerade ältere Menschen kennen sich im Netz oft nicht aus, wissen nicht, wie sie im Netz navigieren sollen oder haben gar keinen Internetanschluss. Dazu kommen Bürger, die sich im Internet einfach nicht beteiligen möchten. Aber auch auf kommunaler Ebene gibt es Hemmnisse: Manche Kommune hat vielleicht nur eine langsame Internetanbindung. Oder es fehlen entsprechende Ressourcen vor Ort, um eine Beteiligung im Internet umzusetzen. Und dann ist da noch die Angst, vielleicht einen Shitstorm auszulösen und dem dann nicht mehr Herr werden zu können.
Doch auf der anderen Seite stehen die Chancen, die das Netz bietet: Junge Familien, die nicht regelmäßig an Bürgerversammlungen teilnehmen können, weil sie arbeiten müssen, könnten über das Netz einbezogen werden. Bürger, die noch nie auf einer Bürgerversammlung waren, können sich zuvor im Internet über die Möglichkeiten einer Beteiligung informieren. Und nicht zuletzt ist das Internet auch ein Ort der Dokumentation, der Archivierung und der Möglichkeit, sich jederzeit und nicht nur im Rahmen einer Bürgerversammlung zu beteiligen.
All diese Argumente sprechen für eine integrierte Bürgerbeteiligung: Internet und Bürgerversammlung sollten zusammenarbeiten und das Netz wird dabei zu einer Ergänzung, zum verlängerten Arm. Warum nicht Diskussionen aus der Bürgerversammlung im Netz aufnehmen und weiterführen? Warum nicht Informationen und Presseartikel gesammelt online stellen? Warum nicht die Möglichkeit nutzen, mit Experten, Beteiligten und der Stadt gemeinsam in einem Forum zu diskutieren, weitergehende Fragen zu stellen oder in einem Chat Transparenz zu zeigen und dabei dennoch im Rahmen von Bürgerversammlungen, Podien und Sprechstunden den persönlichen Kontakt suchen, Menschen mitnehmen, die kein Internet haben oder sich dort nicht auskennen und nicht zuletzt gemeinsame, verbindende Erlebnisse schaffen? Das Internet bietet auf diese Weise auch im ländlichen Raum bisher ungenutztes Potential.
In den Städten ist dies bereits angekommen. Dort werden immer mehr Beteiligungen angeboten, die auch online geführt werden: Ob in Berlin, in Frankfurt oder in Stuttgart – auf eigenen Beteiligungsportalen können Bürger ihre Meinung abgeben, Fragen stellen, Mängel melden. Auch konkrete Projekte werden online den Bürgern vorgestellt und zur Diskussion gestellt.
So sucht beispielsweise die Stadt Heilbronn momentan nach Ideen und Visionen im Rahmen der Stadtkonzeption 2030. Die Bürger werden dabei aufgerufen, nach Ideen und Visionen für ihre Heimatstadt zu suchen: Wie soll Heilbronn 2030 aussehen? Aber nicht nur das: Gleichzeitig versucht die Stadt, die Identifizierung mit der eigenen Stadt zu stärken und bezieht die Bürger mit ein, wenn es um eine neue Markenstrategie für Heilbronn geht.
Schon bei der Auftaktveranstaltung war die Stadthalle gut gefüllt. An verschiedenen Ständen zu bestimmten Themenfeldern konnten die Bürger direkt mit Verantwortlichen sprechen, diskutieren, und Visionen vorstellen. Aber auch im Netz werden viele Informationen bereitgestellt und auch dort kann diskutiert und offen über Ideen gesprochen werden.
Freilich, Online-Bürgerbeteiligung ist in einem jungen, urbanen, womöglich studentisch geprägten Umfeld einfacher durchzusetzen und gerade im ländlichen Raum stellt sie daher momentan auch keine neuen Klickrekorde auf. Dazu kommen die finanziellen Spielräume: Kommunale Ressourcen sind im ländlichen Raum knapp, viele Bürgermeister arbeiten ehrenamtlich. Videos, Livechats oder ein Stream der letzten Bürgerversammlung stellen eine hohe Hürde dar – nicht nur technisch.
Gleichwohl ist die Frage nach Online-Bürgerbeteiligung kein Wettrennen um die modernste Plattform. Manchmal reicht schon ein einfaches Diskussionsforum aus, um Probleme zu thematisieren. Externe Dienstleister können bei der Erstellung und Pflege helfen.
Hinzu kommt, dass die Voraussetzungen für das Gelingen einer erfolgreichen Beteiligung die gleichen sind wie in der Stadt: Klare Abgrenzung, qualitativ hochwertige Beiträge und Transparenz. Was ist möglich? Wer ist zuständig? Was geht nicht? Erst durch einen definierten Raum mit klaren Zuständigkeiten und dem Wissen, wie viel eine Kommune leisten kann, kann eine Bürgerbeteiligung auch erfolgreich sein.
Auf diese Weise bietet sich die Möglichkeit, Zielgruppen mit ins Boot zu holen, die man bisher nicht erreichen konnte: Junge Familien, Jugendliche, Menschen mit Behinderung. Darüber hinaus ist es möglich, verschiedene ländliche Regionen zu verbinden. So wie beispielsweise in Blaubeuren.
Dort hat man, um den Herausforderungen des demographischen Wandels in Blaubeurens Dörfern entgegenzuwirken, einen Ortsentwicklungsprozess online begleitet – mit einem Diskussionsforum und aktivierender Moderation, durch viele Informationen und Anregungen zur Meinungsbildung, aber auch mit dem Angebot, gemeinsam in themenspezifischen Arbeitskreisen über Strategien und Ideen nachzudenken und im Netz über den Stand der Arbeitskreise laufend zu berichten.
Der Einbezug des Netzes war ein voller Erfolg: Die Dörfer schauten nicht nur nach ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen, sondern erkannten, dass viele die gleichen Probleme sahen – nur eben an anderen Orten. Sie bildeten durch den interkommunalen Blick untereinander neue Netze. So entstanden Strategien, die nicht nur den Ort selbst betrafen, sondern nachhaltig den ganzen Raum verbessern sollten. Und nicht nur das: Viele Bürger verfolgten ihre Vorschläge und Ideen, wissend um die klamme Haushaltslage und haben dabei Kniffe gefunden, wie sie diese in Eigenregie ehrenamtlich umsetzen können.
Interessanterweise hat Blaubeuren damit einen Trend gesetzt. Vor Kurzem überraschte Gisela Erler, Staatsrätin in Baden-Württemberg und Beauftragte für Bürgerbeteiligung, mit dem Vorschlag, auch interkommunal Bürgerbeteiligungen durchzuführen. Am Beispiel von Blaubeuren ist zu erkennen, dass das funktionieren kann: Mit einer hohen Qualität der Beiträge, überraschenden Erkenntnissen auch für den Bürgermeister und vielen kleinen und großen Ideen.
Sascha Blättermann studierte Germanistik und Philosophie und absolvierte eine Ausbildung an einer Journalistenschule. Er arbeitet in Tübingen bei der Online-Bürgerbeteiligungsplattform Polit@ktiv und veranstaltet regelmäßig eine nachhaltige Stadtführung in Stuttgart.
Bildnachweis:
Artikel- und Autorenbild: Sascha Blättermann
Hammerschmiede (Museum) beim Blautopf: Franzfoto, CC-BY-3.0.
Kloster Blaubeuren: Andreas Praefcke, CC-BY-3.0.